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2017-11-16

BELL WITCH - Mirror Reaper

Eines der gewaltigsten Alben dieses Jahres ist für mich nach wie vor "Horizonless" von den Funeral Doomern Loss. Ein Jahr nach dem Tod des Ex-Bell Witch-Schlagzeugers Adrian Guerra hatten sie es jenem gewidmet. "Und wohl selten", habe ich im Juli festgestellt, "war diese Geste würdiger und musikalisch gerechtfertigter."

Diese Aussage gilt nach wie vor, auch wenn ich damals noch nicht wusste, dass Bell Witch ebenfalls noch ein neues Album herausbringen würden, welches auch bereits vor Guerras Tod in Entstehung war und von dem Verlust entscheidend beeinflusst und geprägt wurde.

Selbstverständlich - und zum Glück - ist die Ehrung eines Verstorbenen ja kein Bandwettbewerb, was Musik im Übrigen ohnehin nie sein sollte. Dennoch würde ich zumindest das Fazit meines Loss-Reviews - "Mehr Doom als Loss geht nicht." - so nun nicht mehr stehen lassen.

Denn... Doch! Jetzt gibt es "Mirror Reaper", bestehend aus einem einzigen, gleichnamigen Song, dessen Länge von über 83 Minuten allein schon einen Eintrag ins Buch der Doom-Rekorde sichert.





BELL WITCH - Mirror Reaper (transparent blue vinyl with black haze 2LP) (2017)

Die schiere Größe, welche selbst die CD-Version dieses einen Liedes zu einem Doppelalbum macht, ist auch der Grund dafür, dass ich mit dieser Rezension relativ spät dran bin, obwohl Bell Witch - spätestens seitdem ich "Four Phantoms" zu meinem Album des Jahres 2015 gekürt habe - bei mir höchste Priorität genießen.
Diese Zeit, um sich vollends ohne Ablenkung oder Unterbrechung auf ein Stück Musik einzulassen, hat man einfach selten. Auch meine gewöhnlichen Autofahrten sind dafür zu kurz.

Ok, wir müssen natürlich zunächst einmal die Frage klären, ob es sich hier wirklich um eine Komposition, oder eher um einen Deklarierungstrick handelt. Auch wenn ich es hoch schätze, ist z.B. "The Whirlwind" von Transatlantic ja so ein Fall, in dem die einzelnen Stücke eines Konzeptalbums einfach zu Teilen eines Riesensongs erklärt wurden.

Durch die physikalische Aufteilung wird "Mirror Reaper" auf CD und LP in zwei Hälften bzw. vier Viertel gespalten, die auch einen klar unterscheidbaren Charakter haben. Kann ich sie aber einzeln hören, ohne dass mir vorne oder hinten etwas fehlt? Für mich hängt dies alles zweifellos so dicht zusammen, dass ich es erstaunlicherweise wirklich als ein einziges Stück empfinde.
Da liegt mein Rekord bisher bei den fünfzig Minuten von Jesus "Infinity". (Sorry, liebe Stonerdoomer, aber mit dem drei LP-Seiten langen für viele von euch heiligen Gral "Dopesmoker" von Sleep bin ich bislang nicht warm geworden.)

So, nachdem dies geklärt ist, fange ich nochmal von vorne bzw. von außen an:

Schon das doppelseitige Cover von Mariusz Lewandowski, in seiner epochalen Gewaltigkeit auf einer Stufe mit dem des aktuellen Werks von - Überraschung - Loss, verspricht ein außergewöhnliches Album. Und es verwirrt beim erstmaligen Auspacken, da es sich nicht nur genauso auch nochmal auf der Innenseite befindet, sondern vor allem, weil die Gatefold-Hülle sich links statt rechts öffnet.

Spiegel-Konzept eben. Dazu liegt ein Sheet mit Texten und Credits bei. Die von mir gewählte Farbvariante gehört eher zu den unauffälligeren, sieht allerdings schick aus. Trotzdem hätte ich wohl lieber auf schwarz setzen sollen, denn leider sind die Platten ziemlich geräuschintensiv. Ausgerechnet die Seite mit den ruhigsten Passagen ist bei mir ein hemmungsloses Knacks- und Knisterfest.
Da höre ich schon fast lieber die als Downloadkarte beiliegende Digitalversion.





Diese individuelle Schwäche meines Exemplars ist aber das einzig Negative, was ich an dem Album finden kann, hat das Duo aus Bassist Dylan Desmond und dem vorher ausgerechnet im Grindcore beheimateten Neu-Drummer Jesse Shreibman hier doch ein überlebensgroßes Meisterwerk geschaffen.

Die meisten Zutaten sind von den Vorgängeralben bekannt: eine erstaunlich präzise umgesetzte, mehr als geduldige Langsamkeit. Kompositionen, die sich in eher der Klassik als der Rockmusik entlehnten Bewegungen entfalten, getragen von einem Bass, der schon alleine eine komplette Band ersetzt. (Und manchmal kann er auch minutenlang alleine spielen, bevor sich das Duo gemeinsam zu orchestral krachender Doomgewalt aufschwingt.)
Dass Niveau der Arrangements sowie der Ton dieses Bassspiels machen Desmond in meinen Ohren zum legitimen musikalischen Haupterben Cliff Burtons.

Eine musikalische Neuerung ist die von Shreibman bediente Hammond-Orgel. Selbst in ihrem Solo-Spot ist diese nie aufdringlich, sondern beschränkt sich darauf, der schweren Traueratmosphäre noch mehr Tiefe als ohnehin schon vorhanden zu geben.
Außerdem ist sie ein weiterer von vielen oft kleinen Elementen, die dafür sorgen, dass es hier trotz des durchgehend fest auf die Bremse tretenden Tempos immer interessant bleibt.

Ein ganz wichtiger Baustein in Bezug auf Spannung und Abwechslungsreichtum ist der Gesang, den sich - obwohl Bell Witch doch ein Duo sind - gleich vier Personen teilen:


Shreibman hat das gutturale Gruftgegrunze sowie die gelegentlichen Black-Metal-Faucher seines Vorgängers übernommen, während Desmond den ebenfalls mit Tonnen von Reverb unterlegten Kathedralengesang beisteuert.
Beiden kann man wie gehabt selbst mit Textblatt als Nichtmuttersprachler wieder kaum bis gar nicht folgen. Aber was soll's, wenn es doch so überzeugend klingt?


Ebenso vertraut ist, dass im späteren Verlauf des Albums Gastsänger Erik Moggridge seine sensible, dramatische Stimme beisteuert und dabei stark an Patrick Walker (Warning/40 Watt Sun) erinnert.
Der Aerial Ruin-Sänger hat in der großenteils von ihm dominierten letzten halben Stunde des Songs auch den mit Abstand meisten Text. Etwa von Minute fünfzig bis sechzig wird "Mirror Reaper" so zu seiner stillen Sternstunde.

Wie immer - aber durch das persönliche Schicksal diesmal mit noch größerem emotionalen Gewicht - erzählen Bell Witch eine Geistergeschichte. Das Album beschreibt den Moment des Übergangs vom Reich der Lebenden in das der Toten. Und genau am Wendepunkt, als der entscheidende Schritt vollzogen wird, meldet sich tatsächlich ein Geist zu Wort:
"The Words Of The Dead", wie die Credits sie nennen, sind unbenutzte Gesänge Adrian Guerras aus den "Four Phantoms"-Sessions.
Sehr morbide, aber sehr effektiv. Und ganz sicher in seinem Sinne.


"Mirror Reaper" ist eine gigantische musikalische Trauerbewältigung, eine Komposition, der es schon vor dem ersten Gesangseinsatz gelingt, einem das normale Zeitempfinden zu nehmen. Lässt man sich darauf ein, gibt es dieses Jahr wohl kein anderes Werk, welches einen nach Verklingen der letzten, erstaunlich hellen und hoffnungsvollen Note so sehr belohnt wie dieses.
Das Album ist ein Epitom des Subgenres Funeral Doom, strahlt in seinem künstlerischen Anspruch aber weit darüber hinaus.

Bell Witch haben sich und Adrian Guerra hier nach der gewaltigen Messlatte, die sie sich selbt gelegt haben, tatsächlich ein Denkmal in der Rockmusikgeschichte geschaffen.



Natürlich ist dies davon unberührt immer noch tiefste Randgruppenmusik, Spezialfutter, welches von massenrezensierenden Printmagazinschreibern vermutlich reihenweise mit tumben Banausenfüßen getreten wird.

Und auch wer nicht so doom bzw- funeral-doom-erfahren ist und sich mit Bell Witch langsam (wie sonst?) bekanntmachen möchte, ist wohl besser beraten, sich in der Reihenfolge der Diskographie (also erst einmal "Longing" und "Four Phantoms") diesem Koloss anzunähern.

Er läuft ja nicht weg.


Bell Witch plus Erik Moggridge spielen das Ding übrigens komplett auf dem nächsten Roadburn Festival. Ich glaube, da muss man sich besser sehr früh in die Schlange vorm Patronaat stellen.
  


Highlight: Mirror Reaper



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