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2015-09-01

THE HIRSCH EFFEKT - Holon : Agnosie

Ein Holon ist ein Ganzes, welches Teil eines anderen Ganzen ist. Von daher ist es gar kein unsinniger Titel für eine Album-Trilogie, in der jeder Teil auch für sich alleine überzeugen soll.

Klar, daran werden The Hirsch Effekt bei ihrer 2010 mit "Holon : Hiberno" begonnenen und 2012 mit "Holon : Anamnesis" fortgesetzten Reihe wohl nicht primär gedacht haben.

Ich werde mich im folgenden Text übrigens nicht bemühen, den Rest der kryptischen Album- und Songtitel weiter aufzudröseln, sondern überlasse die Übersetzung der Begriffe, welche oft Mehrfachbedeutungen in Philosophie, Psychologie. Medizin und vielen weiteren Disziplinen haben, Fachleuten, die sich damit auskennen, bzw. googlewütigeren Hardcore-Hirschianern.

Es ist ja auch nicht gerade so, dass es ohne einen solchen Index zu wenig über den Abschluss der Trilogie zu sagen gäbe...




THE HIRSCH EFFEKT - Holon : Agnosie (clear 2LP/CD) (2015)


Also, was erwartet den Hörer bei der Band mit dem denglischen Namen?

Nach meinem Erstkontakt mit The Hirsch Effekt im Oktober 2013, als sie im Vorprogramm von The Dillinger Escape Plan in Hamburg spielten, habe ich sie spontan als Kreuzung von Dillinger und Sportfreunde Stiller beschrieben, was vielleicht für den einen oder anderen Nicht-Bayern-München-Fan despektierlich klingen mag, allerdings nie so gemeint war. Nach wie vor finde ich dieses Bild auch nicht falsch, allerdings ist es natürlich nur ein winziger Ausschnitt der ganzen Wahrheit.

In erster Linie sind The Hirsch Effekt für mich ja die Entschädigung dafür, dass es The Mars Volta nicht mehr gibt. Sowohl in den hyperaktiven Gitarrenriffs- und licks als auch dem Melodiegespür höre ich viele Parallelen, ja sogar die ein gutes Vokabelgedächtnis erfordernden Songtitel haben sie gemein.

Das insgesamt - aber manchmal auch nur innerhalb eines Stückes - ausgelotete stilistische Spektrum ist ebenso vergleichbar. Zwar spielen bei den Hannoveranern lateinamerikanische Einflüsse und Falsett-Leadgesang eine ungleich kleinere Rolle, dafür geht man allerdings in anderen Richtungen noch weiter. Vor allem drängen sich natürlich die ebenso präzisen wie ganz derbe brutalen Bestandteile Death Metal, Grindcore und Mathcore auf der einen und experimenteller Pop auf der anderen Seite auf.

Obendrauf ergänzt sich das Trio im Studio noch gerne mit einem Heer von Gastsängern und -musikern, so dass auch jederzeit der Schalter z.B. zu Kirchenchorälen und Kammermusik umgelegt werden kann.


Generell sollte man sich als Hörer also darauf einlassen können, mit der Sprunghaftigkeit von Mr. Bungle (oder auch anderer Projekte aus dem Dunstkreis von Mike Patton und John Zorn) jederzeit von einem Extrem zum anderen, von Napalm Death zu Björk hin- und hergepeitscht zu werden.

Und selbst wenn all dies kein Problem darstellt, ist da natürlich noch die wohl kontroversteste Zutat - aber gleichzeitig auch eine der Stärken und zweifellos das größte Alleinstellungsmerkmal der Gruppe: der deutschsprachige Indierock-Einfluss.



Natürlich achtet man bei Musik in der eigenen Muttersprache anders auf die Texte.

Diese sind bei The Hirsch Effekt einerseits eine sehr persönliche Aufnahme der Seelenlandschaft von Gitarrist Nils Wittrock - anderseits aber auch so offen gestaltet, dass man auch für sich selbst eine eigene Interpration finden kann.
Worum genau es aus Sicht des Dichters selbst geht, darüber möchte ich mir gar nicht anmaßen, zu spekulieren. Auf jeden Fall ist es viel existentieller Stoff: Liebe, Trauma, Tod, Schuld...
Ein sehr umfassendes und offenes Konzept also, in dem neben allen Tiefsinnigkeiten auch mal Platz ist, aus vollem Herzen eine Hasstirade gegen die moderne Smartphonekultur herauszurotzen, ohne dass es irgendwie deplaziert wirkt.

Dies ist sowie die ganz große Kunst auf "Holon : Agnosie".

Man nehme nur mal die aufeinander folgenden Tracks 5 und 6: "Bezoar" ist eine hirnzerfetzende Tour de Force, in der zu derbsten Mathcore gegen die ganze scheiß Menschheit gewettert wird, um nach einen mit zynisch fröhlichen Tralala-Gesängen gekrönten Refrain im sanften Santana-Samba zu relaxen und das Ganze dann nach erneutem Wildgewurste in barocker Kammermusik zu beenden. Mit "Tombeau" geht es danach ganz ohne diese Sprunghaftigkeit weiter. Getragen von Klavier, Akustikgitarre und Streichern und akzentuiert durch allerlei elektronisches Gezirpe breitet sich hier als wundervolle Ballade der melancholische Höhepunkt des Albums aus. Unterschiedlicher können zwei Stücke kaum sein.
Doch trotz all dem Wahnsinn an vollkommen unterschiedlichen, teilweise eigentlich unvereinbar scheinenden Elementen, hat man sowohl bei diesen beiden als auch den restlichen Songs niemals das Gefühl, plötzlich auf einer anderen Platte gelandet zu sein. Irgendwo sind doch Fäden gespannt, die das alles logisch zusammenhalten.

Ich muss an dieser Stelle kurz einschieben, dass bis auf die konkreten Beispiele alles bisher über die Musik Gesagte für alle drei Alben von The Hirsch Effekt gilt.

Im Grunde ist "Holon : Agnosie" auch more of the same - aber eben auf extrem hohen Niveau und vor allem mit Kurve nach oben.

Auf dem Erstlingswerk gab es schon ein paar Stellen, an denen ich mich fragte, ob das jetzt unbedingt sein muss, die mir vielleicht ein bisschen zu konstruiert vorkamen.
Und es gab auch die Passagen, in denen die große Ehrlichkeit und Emotionalität des Gesangs mit den zu gestelzten, schwülstigen oder grammatikalisch grenzwertig gedehnten Texten kollidierte. Und dann kann es halt leicht cringeworthy werden.

Das waren allerdings nur kurze Momente, die ein sehr gelungenes Album nicht runterziehen konnten.

Vielleicht war von diesen Momenten auf dem Nachfolger immer noch leichte Spuren übrig. Ich bin aber gerade  textlich auch nachsichtiger geworden. Mag sein, dass es auch auf dem aktuellen Werk noch die eine oder andere Zeile geben mag, die man als zu kitschig oder komisch empfinden mag - neunzig Prozent aller englischsprachigen Alben haben davon noch viel mehr, aber man nimmt sie eben gelassener hin. Auf jeden Fall stört mich auf der neuesten Scheibe nichts mehr.

Im Grunde war der zweite Streich "Holon : Anamnesis" ja schon eines der besten deutschsprachigen Metal(und weit darüber hinaus)-Alben aller Zeiten.

"Holon : Agnosie" setzt einfach (haha) spielerisch, gesanglich, songwriterisch, lyrisch, produktions- und ohwurmtechnisch, überall noch ein Sahnehäubchen mehr obendrauf!

Wer dem Vorgänger also in einer Bewertung mit Punktesystem die Höchstnote gegeben hat, für den sollte es jetzt jedenfalls ziemlich eng werden.

Was mich angeht, so gibt es dieses Jahr zwar viele Alben, die ich liebe, doch so oft wie dieses unglaubliche Ding höre ich kaum ein anderes.

Großartig, das Teil!


Und das Vinyl (plus CD) kann auch einiges.

Schaut's euch einfach an:





Die einzige Frage, die am Ende unbeantwortet bleiben muss, ist die, was denn die komplette "Holon"-Trilogie als Ganzes nun wert ist.

Dies lässt sich eigentlich erst mit dem nächsten Album beantworten. Denn wenn die Band dann mit diesem Konzept wirklich abschließen möchte, muss sich zur Abgrenzung ja schon irgendwas deutlich hörbar ändern. Das könnte durchaus spannend werden. Englische Texte wären wahrscheinlich die simpelste Option - und kommerziell betrachtet wahrscheinlich auch nicht blöd.

Doch wer weiß... Lassen wir diese Zukunftsmusik mal vorerst in der Zukunft.


Zum Abschluss hier noch aus der Gegenwart eine Liveversion des aktuellen Titelstücks:





Anspieltipps: Bezoar, Fixum, Athesie, Agnosie, Tombeau, Jayus, Cotard



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